Wissen 12/2002
Neubausiedlung am
Meeresgrund Künstliche Riffe sollen zerstörte Unterwasserwelten beleben. Flora und Fauna nehmen sie dankbar an. Selbsternannte Umweltschützer kippen sogar Autos, Panzer und Ölplattformen in die Ozeane von Gabriele Lebs Die Hafenmauer in Schilksee bei Kiel sieht aus wie eine
ganz gewöhnliche Natursteinmauer. Ein paar Pflanzen wachsen in den Fugen,
und obendrauf stolzieren Möwen und Austernfischer. Nichts erinnert daran,
dass diese Steine einst am Grund der Ostsee lagen, von Algen und Seegetier
bewachsen. In den fünfziger und sechziger Jahren war die Steinfischerei
eine lukrative Einkommensquelle. Tonnenweise wurden riesige Findlinge vom
Meeresboden gefischt und an Land befördert - genutzt als billiges
Baumaterial zur Uferbefestigung, für Mauern und Wege. Was damals niemand
bedachte: Auf diesen Felsen leben jede Menge Meerestiere, die mit weichem
Sandboden nichts anfangen können und deren Lebensraum massiv reduziert
wurde.
Kieler Biologen wollen mit so genannten Reef Balls das verlorene Biotop
Stück für Stück wiederherstellen. "Wir versenken hohle, durchlöcherte
Betonhalbkugeln", erklärt Stefan Krause, Projektleiter der Firma MariLim.
Ihre große Oberfläche bietet Tieren und Pflanzen Siedlungsfläche, ihr
Inneres Unterschlupf. Ursprünglich wurden Reef Balls in den USA zur
Reparatur von Korallenriffen entwickelt. Einsatz fanden sie aber auch
schon in gemäßigten Breiten: Weltweit sind bereits mehr als 200 000
Reef Balls im Meer versenkt worden. Um den positiven Effekt auf die Unterwassergemeinschaft der Ostsee zu
demonstrieren, haben die Meeresbiologen im vergangenen Sommer zwölf
Hohlkugeln an der Seebadeanstalt Holtenau bei Kiel auf dem Meeresgrund
platziert und dokumentieren seither deren Besiedlung. "Ein in Deutschland
einmaliges Pilotprojekt", sagt MariLim-Chef Thomas Meyer. Mit den
handgemachten Findlingen - jeder Einzelne ist etwa einen halben Meter hoch
und hat eine Grundfläche von einem Quadratmeter - ist ein künstliches Riff
geschaffen worden, eine Felslandschaft unter Wasser. Die Idee, mit künstlichen Objekten Meerestieren ein Heim zu zimmern,
hatte ursprünglich wenig mit Naturschutz zu tun und wird daher von
Fachleuten kritisch beäugt. "Seit 1830 baut man in den USA künstliche
Riffe", sagt Meyer. Selbst Autos wurden zu Hunderten versenkt. Sehr zur
Freude der Fischer waren die Wracks schon nach kürzester Zeit von Fischen
bevölkert. Zahlreiche künstliche Riffe sind seitdem als fish attractive
device konstruiert worden, um primär den Fischern das Leben zu
erleichtern. Auch im Zuge des Korallensterbens hat sich die Idee von
künstlichen Riffen inzwischen zu einer zweifelhaften Mode entwickelt: Mit
künstlichen Objekten soll eine der artenreichsten Lebensgemeinschaften
unserer Erde gerettet werden. Nicht zuletzt für den Tauchtourismus - denn
der bringt Geld ein. Wie hoch der Wert von Korallenriffen gerade in
Florida beziffert wird, zeigt ein Unfall der Navy vor ein paar Jahren. Das
Atom-U-Boot U.S.S. Memphis krachte in ein 3000 Jahre altes
Korallenriff vor Florida. Als es sich zu befreien versuchte , rissen die
Propeller zwei tiefe Gräben in das Riff. Die Navy musste 750 000
Dollar Schadensersatz zahlen, die für die Reparatur des Riffs verwendet
wurden. Die kurioseste Idee für künstliche Riffe kommt aus den USA, und
ausgerechnet von der Gruppe, die auch die Reef Balls entwickelt hat. Mit
so genannten Memorial Reefs versucht die Reef Ball Development Group
Sponsoren für das künstliche Hartsubstrat zu finden: Wer wenigstens nach
seinem Ableben noch etwas Gutes für die sterbenden Korallen tun will, kann
sich in einer speziellen Urne als Teil eines künstlichen Riffs auf dem
Meeresgrund bestatten lassen, wirbt der Verein. Korallenlarven siedeln
sich dann auf der Urne an. Ob derartige Naturkosmetik den Korallenriffen aber tatsächlich helfen
kann, ist umstritten. Mehr als 50 Prozent der Korallen sind schon
geschädigt, aufgrund des Klimawandels, infolge von Gift- und
Dynamitfischerei und auch durch Taucher. Der Bau künstlicher Riffe lenkt
von den eigentlichen Ursachen dieser Umweltzerstörung ab und ist zudem
ineffektiv, weil Riffe mehrere hundert Jahre Entwicklungszeit benötigen.
Selbst EcoReef, eine Firma, die künstliche Riffe für Hotelanlagen
entwickelt, sagt: "Die meisten künstlichen Riffe sind nicht nur teuer und
aufwändig zu installieren, sie verwandeln sich mit der Zeit sogar häufig
zu einem regelrechten Unterwasserschandfleck von bemerkenswerter
Dauerhaftigkeit." Illegale Abfallbeseitigung Anstelle einer Umweltverbesserung, klagen Ökologen, sei eine billige
Entsorgungsmöglichkeit für Flugzeuge, Schiffe, Autos und Panzer geschaffen
worden. Für die besonders umstrittene Form eines künstlichen Riffs wirbt
ein Verein in Kalifonien, der alte Ölplattformen versenken will. In Deutschland ist der Bau künstlicher Riffe aus derartigen Materialien
inzwischen verboten. "Wir kommen da ganz schnell in den Bereich der
illegalen Abfallbeseitigung", warnt Joachim Voss, Meeresspezialist beim
Landesamt für Natur und Umwelt in Schleswig-Holstein. Immer wieder hat es
auch bei uns Ansätze gegeben, Autowracks oder Reifen auf den Meeresboden
zu versenken. Vielfach wurde argumentiert, dass Miesmuscheln, die hartes
Substrat zur Siedlung benötigen, aufgrund ihrer enormen Filtrierleistung
das Wasser sogar reinigen könnten. Tatsache ist jedoch, dass Reifen und
Wracks oft mit Schadstoffen belastet oder sogar toxisch sind. Mit der Zeit
sickern Ölreste aus Autos oder Panzern, die künstliche Siedlungsfläche
beginnt zu rosten, die Reifen zerfallen. So verliert die Miesmuschelbank
ihre Lebensgrundlage, stirbt und gibt die angehäuften Schadstoffe wieder
ins Wasser ab. Der zunächst positive Effekt einer Besiedlung dreht sich
ins Gegenteil. Mit Autoreifen- und Ölplattform-Recyclern wollen die Meeresbiologen von
MariLim daher nichts zu tun haben. "Wir verwenden ausschließlich Beton mit
einem pH-Wert, der dem des Meerwassers entspricht", betont Stefan Krause.
Daher seien die Reef Balls kein Fremdkörper im Meer. "Wir haben sozusagen
den Tieren das Bett schon gemacht", sagt der 27-Jährige, denn die
Oberfläche werde besonders rasch besiedelt. Die bisherigen Ergebnisse geben den Biologen Recht: Nach wenigen
Monaten hatten sich über 40 Tier- und Pflanzenarten auf den angebotenen
Flächen niedergelassen. Schon eine Woche, nachdem die Betonhalbkugeln
unter Wasser waren, hatten sich Grünalgen angesiedelt, dann kamen die
ersten Tiere: Strandschnecken, Würmer und Flohkrebse, die zum Teil von den
Algen leben. Miesmuschel- und Seepockenlarven entdeckten den Stein, und
zwei weitere Wochen später hatte bereits der Gemeine Seestern die Reef
Balls in großer Zahl besiedelt. In den Höhlen sucht die Strandkrabbe
Schutz. Auch Fische und Krebse tummeln sich in den Gewölben, und selbst
Manteltierchen haben sich eingemietet. "Wir sind überrascht, wie schnell
das ging", schwärmt Thomas Meyer. Sogar Räuber, die weiche Böden mögen,
wie Grundeln oder Seesterne, haben an den Kugeln Gefallen gefunden. "Sie
finden an den Reef Balls leichter Beute", erklärt Krause das Phänomen des
Wohnungstausches. Und wieder anderes Getier sucht Schutz vor Strömung oder
Feinden. "Ich kann mir vorstellen, dass sich bald Jungdorsche und Heringe
blicken lassen", hofft Krause. Ginge es der Ostsee also besser, wenn Tausende von Reef Balls ins Meer
gekegelt würden? "Künstliche Riffe sind kein Allheilmittel", warnt der
Meeresbiologe Haje Rumohr vom Kieler Institut für Meereskunde vor
Euphorie. Denn eine große Artenfülle hat die Ostsee ohnehin nie
beherbergt. Aufgrund des geringen Salzgehaltes und starker
Sauerstoffschwankungen überleben hier weniger Arten als in anderen Meeren.
MariLim-Mitarbeiter Krause hielte es daher für nutzlos, die Ostsee in
Gebieten mit Reef Balls zuzupflastern, in denen es ohnehin nie Steine gab.
Aber da und dort mit Reef Balls Lebensraum neu zu schaffen, der vom
Menschen zerstört und selten geworden ist, sei durchaus sinnvoll. Sein
neuester Plan: ein Unterwassererlebnispfad aus Reef Balls, der
Tauchtouristen seltene Meeresbewohner zeigt. |